Präses Thorsten Latzel: „Wir brauchen schlicht einen anderen Lebensstil“

52-jähriger Theologe erstattet der Landessynode seinen Jahresbericht

Düsseldorf (17. Januar 2023). „Was berichtet man vom Jahr 2022?“ Diese Frage stand gleich am Anfang des Jahresberichts von Präses Dr. Thorsten Latzel, den er heute der Landessynode erstattete: „Nun, vergangene Jahre haben selten einen guten Ruf. Doch das letzte hatte es wirklich in sich“, konstatierte der Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland.

„Es gibt eine allzu gut bekannte ,Litanei der Krisen‘, die gefühlt zu einer einzigen Poly-Krise verwachsen. Seuche, Krieg, Hitze, Inflation, Kälte, Hunger – das klingt fast nach apokalyptischen Plagen, wie wir sie hierzulande lange nur aus alten Kirchenliedern kannten“, sagte der der 52-jährige Theologe vor den Synodalen, die noch bis Freitag in Düsseldorf tagen: „In Krisen steht unsere bisherige Welt infrage. Speziell der 24. Februar war mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine eine tiefe Zäsur. Es tauchen große Fragen wieder auf: nach Frieden, Gerechtigkeit, Hoffnung. Auch Fragen an uns als Kirche. Wir sind von den Krisen ja nicht ausgenommen, im Gegenteil: Zu allem anderen kommen unsere eigenen Herausforderungen noch hinzu. Entsprechend vielfältig sind die Erwartungen an uns. Was haben wir zu sagen als Kirche Jesu Christi, was nicht ohnehin in den Medien zu lesen wäre?“

Trotziges Vertrauen auf Gottes Wort

Krisen bärgen eine doppelte Gefahr, machte Präses Latzel deutlich: „Zum einen verengen sie den Blick – wir sehen nur noch das Negative. Zum anderen werden wir fremdbestimmt, von außen getrieben. Und wir verlieren so schnell den Bezug zu uns selbst, zu anderen, zu Gott.“ Zeiten der Krisen seien – religiös verstanden – aber ein Anlass des Innehaltens, der Einkehr bei Gott und der Umkehr der eigenen Lebensweise. „Es ist Zeit, neu über Gott, Welt und Seele nachzudenken. Darüber, was alle drei tief im Innern verbindet. Und wie uns das hilft, unseren Krisen neu zu begegnen.“ Wer getauft sei, könne anders leben. Wer getauft sei, lasse sich gesagt sein, „was wir in Gottes Augen sind: Gotteskinder. Hören darauf, was die Welt in ihrem Innersten ist: Reich Gottes. Daran erkennt man uns als Christinnen und Christen: an unserem trotzigen Vertrauen auf Gottes Wort und an unseren taufnassen Seelen.“ Bei allen Problemen und Belastungen hätten Christenmenschen einen immensen Schatz an Ideen und geistlichem Leben. Daran gelte es sich immer wieder auszurichten: „Am besten morgens noch vor den Nachrichten erst die gute Botschaft, vor dem Dysangelium das Evangelium. Und es ist wichtig, dass wir dies anderen vermitteln. Dafür hat gerade religiöse Bildung als Schwerpunktthema unserer Tagung eine zentrale Bedeutung. Religiöse Bildung vermittelt einen heilsam anderen Blick auf die Welt. Sie befreit aus dem Tunnelblick der Angst und öffnet die Augen für Gottes Herrschaft in dieser Welt.“

„Das funktioniert mit acht Milliarden Menschen nicht“

Wer getauft sei, so Dr. Thorsten Latzel, gewinne einen anderen Blick auf sich, die Welt und die Mitgeschöpfe: „Theologisch formuliert: Im Wasser der Taufe stirbt nicht nur unser alter Mensch, sondern auch unsere alte Welt. Es stirbt die Haltung, dass wir mit der Schöpfung gedankenlos umgehen könnten, als sei sie unerschöpflich. Es stirbt die Selbstverständlichkeit, mit der wir Müll produzieren, Energie verbrauchen, weltweit in den Urlaub fliegen, Tiere als Massenware behandeln, dem Artensterben zusehen. Das funktioniert mit acht Milliarden Menschen nicht. Wir brauchen schlicht einen anderen Lebensstil.“ Deswegen sei es gut, dass die Evangelische Kirche im Rheinland umkehre und ambitioniert die Klimaziele angehe: „Auch auf dieser Synode: Dafür ertüchtigen wir unsere Gebäude, ändern unser Mobilitätsverhalten, kaufen wir nachhaltig ein.“

Armut ist ein Skandal

Das „Wüstenjahr 2022“ hat nach Latzels Einschätzung auch die Frage nach Brot und dessen gerechter Verteilung neu vor Augen geführt. „Unter dem Krieg in der Ukraine und der Verteuerung von Lebensmitteln haben weltweit die Ärmsten gelitten. Auch bei uns trifft die Inflation infolge des Krieges vor allem Menschen, die es ohnehin ,nicht dicke‘ haben. Alleinerziehende, kinderreiche Familien. Dass es in unserem reichen Land Familien-, Kinder-, Altersarmut gibt, ist ein Skandal – und zugleich harte Realität. Es ist gut, dass viele Gemeinden Tafeln anbieten. Sie waren im letzten Jahr stärker gefragt denn je. Ich habe die wichtige Arbeit von Schuldnerberatung und sozialen Familienprojekten kennengelernt. Aber dies alles kann und darf kein Ersatz für sozialpolitische Regelungen sein. Die Maßnahmen der Regierung haben manches abgedämpft, aber die Grundprobleme nicht beseitigt.“

Umgang mit sexualisierter Gewalt

Auch das Thema sexualisierte Gewalt gehört für den Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland „zu den harten Wüstenerfahrungen“: „Junge Menschen, Schutzbefohlene, haben auch in unserer Kirche, vor allem in Heimen, Gewalt erleiden müssen, die sie für ihr Leben gezeichnet hat. Diese Taten widersprechen allem, woran wir glauben. Wir tun im Augenblick präventiv alles, damit sich solche Taten möglichst nicht wiederholen, auch wenn wir so etwas wohl nie ganz werden verhindern können: Wir schulen alle Mitarbeitenden, jede Einrichtung muss ein Schutzkonzept vorlegen, wir fordern regelmäßig polizeiliche Führungszeugnisse, haben eine zentrale Meldestelle, psychologische und juristische Beratung, Multiplikatorinnen.“ Zudem werde aufgearbeitet, was früher geschehen ist, weil die Betroffenen ein Recht darauf haben. „Durch fehlende Anerkennung ihrer Leiden ist ihnen oft ein zweites Leid widerfahren. Auch wenn Einzelne die Taten verübt haben, ist dies im Raum von Kirche geschehen. Zu oft wurde weggesehen, geschwiegen oder versucht, die Institution zu schützen. Für all das können wir nur um Entschuldigung bitten, so wie es Vizepräses Pistorius im Jahr 2019 im Namen der Kirchenleitung getan hat.“

Whistleblower der Liebe Gottes sein

In seinem Bericht vor den Synodalen aus den 37 Kirchenkreisen zwischen Emmerich und Saarbrücken nannte Latzel Beispiele, wie Gemeinden der Botschaft von der Liebe Gottes und von der Hoffnung in allen Krisen Gestalt geben – in der Seelsorge, in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, in der Sorge für Geflüchtete und in der Versöhnungsarbeit zwischen Menschen und Völkern. Für diese Arbeit gebe es eine große Basis: „2,2 Millionen Mitglieder – das ist eine Menschenkette, die von Kleve bis Saarbrücken reicht: dreimal hin und dreimal wieder zurück. Evangelische Kirche im Rheinland – das sind Hunderttausende engagierte Menschen. Und auch den Menschen, die ausgetreten sind, ist ihr Glaube keineswegs einfach egal.“ Die entscheidende Frage sei, ob Kirche in den aktuellen Krisen ihren eigentlichen Aufgaben gerecht werde: „Hoffnung stiften. Armut, Unrecht, der Zerstörung der Schöpfung entgegentreten. Whistleblower der Liebe Gottes sein.“

Menschen berühren, Schöpfung bewahren, Güter teilen

Für Thorsten Latzel ist klar: „Im Alltag erliegen wir aber leicht der Gefahr, in Dauergeschäftigkeit um uns selbst zu kreisen. Deswegen sind Bergzeiten wie unsere gemeinsame Synode so wichtig. Daher: Lasst uns den inneren Menschen stärken und anderen Hoffnung geben. Lasst uns unseren Glauben leben, sodass es Menschen wirklich berührt. Lasst uns dafür eintreten, dass Gottes Schöpfung bewahrt, Güter geteilt, Leiden geheilt werden. Offen für Gott – sensibel für andere – evangelisch frei.“

  • 17.1.2023
  • Jens Peter Iven
  • Red